Das Mursivolk ist eine ethnische Gruppe im Südwesten Äthiopiens. Das kleine Volk lebt im unteren Teil des Omo-Tals, was sich in der „Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker“ befindet. Ihr konkreter Lebensraum liegt zwischen den beiden Flüssen Omo und Mago bzw. dem Mago-Nationalpark und Omo-Nationalpark, ca. 100 km nördlich der kenianischen Grenze. Das kleine Areal zwischen den beiden afrikanischen Flüssen ist die isolierteste Region in ganz Äthiopien und ist für Außenstehende aufgrund fehlender Straßen schwer zugänglich.
Die Menschen der Mursi leben in kleinen Hütten, die sie aus Lehm und Holz sammeln. Die Hütten sind rund und sind mit Holzstämmen verdichtet. Als Eingang dient eine kleine Öffnung. Die kleinen Behausungen sind relativ stabil gebaut und ergeben zusammen ein kleines Dorf. Sobald das Volk von seinen anderen Wohnorten wieder zurückkehrt, können die kleinen Heime wieder bewohnt werden.
Der Omo ist einer der größten Flüsse in Äthiopien. Er entspringt dem Gebiet westlich der Hauptstadt Addis Abeba und östlich des Äthiopischen Hochlandes. Der Unterlauf des Omos bildet die Grenze zwischen der „Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker“ und der Region „Oromiyaa“, die gleichzeitig die östliche Grenze des Omo-Nationalparks ist. Der Fluss mündet nördlich an der Grenze zu Kenia in den Turkanasee.
Neben dem Mursivolk leben weitere verschiedene Volksgruppen und kleine Stämme an den Ufern des Omo. Diese Stämme sind die Nyangatom, Surma, Hamar, die Kara, Dassanetch, Bodi und Arbore. Sie leben teilweise in Frieden aber auch in kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Mursivolk. Einige der Völkergruppen verbindet eine ähnlich klingende Sprache miteinander.
Die Flusslandschaften der beiden Flüsse Omo und Mago sind für die Mursi und alle anderen dort lebenden Stämme die wichtigste Quelle ihrer Ernährung. Die jährlichen Überschwemmungen des Omo machen das Land rings um den Fluss zu fruchtbarem Ackerland und bietet ihnen somit die Möglichkeit, hier das Gemüse anzubauen, das Mensch und Tier täglich benötigen. Die zahlreichen Rinderherden der Mursis bekommen vom Omo ihr tägliches Wasser.
Die Region um den Omo hat zwei Regenzeiten im Jahr. Der erste Regen fällt zwischen März und April, die Mursi nennen diesen großen Regen „oivoi“, die nächste Regenzeit ist zwischen Oktober und November und wird der kleine Regen oder „loru“ genannt. Aufgrund der erhöhten Flusspegel des Mago und Omo während der Regenzeiten sind die Mursi gezwungen, ihre Lebenspunkte zu verändern und an andere Orte zu ziehen, die ihnen Sicherheit bietet.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts zogen einige Stämme der Mursi vom Westen quer über den Omo in das heutige südliche Mursiland und wurden fester Bestandteil Äthiopiens. Es waren kleine familiäre Gruppen, die die relativ kurzen Distanzen zu neuen Plätzen überwanden, um dort neue Wohnorte für die kleinen Volksgruppen herzurichten. Sie waren auf der Suche nach einem geeigneten Ort, der ihnen einerseits das Wasser und den fruchtbaren Boden einer Flusslandschaft gab und andererseits gut gewässertes Grasland, auf dem sie ihre Rinder weiden lassen konnten. Diese Modifikationen waren und sind bis heute grundlegende Basis für ihr Leben und zeigen auf einfache Art die wichtigsten Identitätsmerkmale.
Dieser damalige erste Wechsel ist aus der Sicht der Mursi ein historischer Punkt ihrer heutigen politischen Identität.
Der nächste Wechsel zwischen 1920 und 1930 führte nördlich in eine Region, die bessere Grundlagen für die
Wasserversorgung bot. Zu jener Zeit war der Fluss Mara die nördliche Grenze der Mursi.
Der dritte Wechsel begann 1979 und brachte die Mursi in das tiefer gelegene Land des Omo. Dort hatten sie
regelmäßigen und engen Kontakt zu ihren nächsten Nachbarn, den Aari. Im höheren Mago Tal lebten bereits seit
dem letzten Jahrhundert das Volk der Mela, die damit ebenfalls zu ihren Nachbarn wurden.
Einige Jahre später wurde hier ein protestantischer Missionsstandort errichtet und versorgte die kleinen
Volksgruppen mit medizinischer, landwirtschaftlicher und tierärztlicher Hilfe.
Die Mursi sind ein zurückgezogenes Volk in Äthiopien, die leicht aggressiv auf unbekannte Menschen reagieren. Sie selbst nennen sich in der surmischen Sprache „Mun“. Es sind freundliche Menschen, die fernab der Zivilisation mit ihren Traditionen und größtenteils ohne das Geld der zivilisierten Welt leben. Wie die meisten Naturvölker achten und schätzen sie die Natur und leben in Einklang mit der vorherrschenden Wildnis, in der sie sich befinden. Die Mursi sind von der Natur und den Ressourcen, die sie umgeben, abhängig. Sie leben mit sehr einfachen Mitteln und nutzen das, was ihnen die Natur bietet. Die Rinder sind ihr einziges und elementarstes Vermögen, dass ihnen in Zeiten von Ernteausfällen die Möglichkeit bietet, andere Lebensmittel zu tauschen. Daher ist eine gute Rinderzucht, Weideland und ausreichend Wasser für das Leben der Mursi Grundlage aller sozialen Begebenheiten. Bedenkt man, dass eine Horde Rinder an die Familie der Braut gezahlt werden muss, dann wird klar, welche Bedeutung das Land und das Wasser für die Mursi haben.
Das Volk der Mursi lebt im Allgemeinen ohne eine ernannte Führungsrolle. Eine festgelegte Rolle innerhalb
ihrer Gesellschaft ist eine Art Priester, der in der Mursi Sprache „komoru“ genannt wird. Der Priester,
dessen Funktion von einem Familienmitglied vererbt wird, ist für politische wie öffentliche Aufgaben
verantwortlich.
Eine andere wichtige Position zwischen den Mursi ist der „jalaba“. Aufgrund der persönlichen und
rednerischen Fähigkeiten kann ein Mann sich zu der Position des „jalaba“ entwickeln. Ein „jalaba“ zeigt sich
besonders geschickt im öffentlichen Umgang mit anderen Gruppen oder Stämmen, bei denen friedliche Debatten
gehalten werden sollen. Er sorgt für das friedliche Miteinander im täglichen Leben und vermittelt zwischen
den Volksgruppen. Der „jalaba“ hat ebenfalls die Aufgabe, etwaige Debatten um den Landbesitz mit der
Regierung zu besprechen, die Gedanken und Wünsche des Volkes an die Regierungsvertreter zu übermitteln und
die Antworten dem Volk wiederzugeben.
Männer werden einem „Ältestenrat“ zugehörig, der soziale Funktion innerhalb des Stammes hat. Um in den
Ältestenrat aufgenommen zu werden, müssen sie körperlich erwachsen und verheiratet sein. Daher werden sie
kurze Zeit nach der Hochzeit in den Rat aufgenommen und erhalten den Status „rora“ – „die jüngeren
Ältesten“. Die „rora“ sind eine Art „Mursi Polizei“. Nachdem eine neue Gruppe mit neuen Mitgliedern geformt
wurde, steigen die „rora“ in ihrem Rang auf und werden „bara“ – „die Senioren Ältesten“. Die älteren „bara“
hingegen werden „karui“ („die pensionierten Ältesten“). Die „bara“ haben die Autorität, endgültige
Entscheidungen für die Mursigruppe zu treffen. Die „karui“ sind die Supervisoren, sie helfen den jüngeren
„bara“ bei ihrer Entscheidungsfindung und geben ihnen Ratschläge.
Jeder einzelne Stamm („bhuran“) hält seine eigene Anordnung des Ältestenrates ab. Diese werden im selben
Jahr veranstaltet, entsprechend den strengen Präzedenzregeln.
Dabei hat der Stamm der „Ariholi“ von Vorzug. Die Gruppe wird als „der Magen“ („kiango“) genannt, weil sie
der erste Mursi Stamm waren, der sich in dem Gebiet angesiedelt hat. Daraufhin folgt der Stamm
„Gongulobibi“, dann „Dola“.
Das Volk der Mursi spricht seine eigene Muttersprache, die ebenfalls „Mursi“ genannt wird. Sie gehört der
surmischen Sprache an, die nicht einheitlich besteht und sich in die verschiedenen Varianten der
unterschiedlichen Volksgruppen unterteilt. Die Mursisprache ist mit zwei weiteren Sprachgruppen verwandt,
der Me'en und Suri Sprache, in einigen Bereichen auch der Kwegu Sprache ähnlich.
Dennoch gehören die surmischen Sprachen den ostsudanischen Sprachgruppen an, die einst aus der Obergruppe
der nilosaharanischen Sprachen hervorgegangen sind.
Seit weniger als zwei Jahrzehnten existiert eine Schrift und Orthografie für die surmische Sprache der
Mursis. Eine auf lateinisch basierende Mursi Orthografie wurde an der Universität von Addis Abeba
entwickelt. Schulen können heute eine einfache Fassung des Mursi-Amharisch-Englischen Wörterbuches
einsetzen.
Viele der jungen Mursis gehen heute auf Schulen, die außerhalb ihres Gebietes liegen. Nachdem die Kinder die Klassen 1–4 absolviert haben, können sie auf weiterführende Schulen in Jinka oder anderen Städten im Südwesten Äthiopions gehen.
Hochzeiten sind eine der bedeutendsten Institutionen im Leben der Mursis. Eheschließungen sind unter den
einzelnen Stämmen auch politische Rechnung, um einen höheren Status zu erhalten.
Finden sich ein Mann und eine Frau zusammen, muss von der Familie des Bräutigams einen hoher Brautpreis von
mehreren Rindern an die Brautfamilie zahlen. In den meisten Fällen ist der Preise eine Herde von ca. 38
Rindern. Erst dann kann die Beziehung in eine Ehe münden. Aufgrund der gezahlten Rinder erhält die Frau nach
der Hochzeit einen neuen gesellschaftlichen Status. Der Brautpreis ist für die Familie eine der wenigen
Gelegenheiten, ihre Rinderherde zu vergrößern aber auch eine große Bürde. Manchmal müssen sich die Männer
bei Familienangehörigen Rinder borgen. Deshalb sagen die Mursis, ein Mann, der heiratet, steht für die
nächsten drei Generationen in der Schuld seiner Familie.
Somit hat die Hochzeit an sich einen großen Stellenwert im Leben des Mursivolkes.
Die Mursis achten streng darauf, wie Männer und Frauen miteinander verheiratet werden um Paare, mit demselben Familienhintergrund zu vermeiden. Dazu unterscheiden die Mursi die Verwandten der Stämme und Gruppen in „Vater männlicher Abstammung“ und „Mutter aus weiblicher Abstammung“. Die jeweiligen Kinder bzw. Neffen sind ihnen zugehörig. Ihre Regeln, die in einer Familienzusammenführung enden, sind hoch kompliziert. Oft sind Hochzeiten der verschiedenen Gruppen aufgrund politischer Allianzen einzelner Stämme arrangiert. Die Mursis sind in sieben große Stämme gegliedert. Die fünf größten Stämme haben zwei bis fünf untergeordnete Stämme. Jeder einzelne Stamm wiederum ist in einer anderen Abstammungsgruppe untergliedert. Die speziellen Regeln von Hochzeiten inner- und außerhalb der Stammesgruppen dienen dazu, neue Allianzen zu gründen. In ungünstigen oder schwierigen Konstellationen kann es vorkommen, dass sich Familienmitglieder untereinander Rinder ausborgen, um den hohen Brautpreis zahlen zu können. Solche Hilfestellungen jedoch stärken die Solidarität innerhalb der Stammesgruppe.
Der Brautpreis stellt die hohe Verantwortung des Bräutigams gegenüber der Familie seiner Braut dar. Es gibt
verschiedene Regeln bei den Mursis, die sicherstellen, dass die Familie der Braut mit dem zu zahlenden Preis
einverstanden ist. Die Zahlung des Brautpreises erzeugt Verknüpfungen, die den gesamten Stamm stärken, und
ist Zeugnis von Vertrauen zwischen den Parteien. Ein Mursi Mann bringt sich mit einer Heirat in die Schuld
der nächsten Generationen.
Aufgrund all dieser Regeln ist erkennbar, dass eine Hochzeit, die mit dem „donga“ ihre ersten zarten
Schritte eingeht, weit mehr als Eheschließung und die Geburt von Kindern ist. Sie bedeutet, ein Wachsen des
Stammes innerhalb der verschiedenen Gruppen, die sich gegenseitig politisch wie finanziell absichern und
damit ein Überleben des ganzen Volkes sichern.
Die Mursis leben polygam, sie können mehrere Frauen heiraten. Daher wohnen die Männer in den
unterschiedlichen Hütten ihrer verheirateten Frauen.
Unverheiratete Mädchen, die ein Kind gebären, haben das Recht, zehn Rinder vom Vater für das Kind zu verlangen. Bekommt sie einen Jungen, wird er die erste Zeit bei der Mutter und dann beim Vater aufwachsen, um zu lernen, wie man die Rinderherde führt. Ist das Kind ein Mädchen, würde es bei der Mutter bleiben, ohne dass der leibliche Vater für sie zahlen muss. Diese Regelung ist sehr tiefgreifend für die Mursi, da die Männer den geforderten Preis von zehn Rindern ungern zahlen wollen. Schwängert ein Mann ein unverheiratetes Mädchen, kann eine geplante Hochzeit mit einer anderen Frau gefährdet sein, da die Mutter des Kindes die geforderte Menge Rinder verlangen kann. Hier ist ersichtlich, welchen bedeutenden Stellenwert die Rinder innerhalb der Familie haben.
Eine der langen und wichtigsten Traditionen der Mursi ist die Rinderzucht. Die Rinder stellen für das
kleine Volk eine Sicherung gesamten Lebens dar, ihrer Nahrungsmittel, und stärken ihre Machtstellung neben
anderen Volksgruppen. Wenn starke Regenfälle die Ernte vernichten, werden Rinder gegen Getreide und andere
lebenswichtige Nahrungsgüter eingetauscht. Die Rinder selbst bieten ihnen Milch, Fleisch und Blut zur
täglichen Ernährung.
Um ihren Tierbestand und die Ernährung der Mursi zu sichern, jagen die Männer daneben auch Büffel und
Flusspferde nahe der Wassergebiete. Zwischen Februar und März schlagen einige der Männer ein Lager in den
grünen Weidegebieten auf, um die Rinder dort fressen zu lassen. Da das üppige Grasland für die Rinderherden
begrenzt ist und mit anderen Volksgruppen geteilt wird, finden hier oft Kämpfe zwischen benachbarten Stämmen
statt.
Neben der Rinderzucht bauen die Mursi einige wenige Gemüsesorten an. Dazu zählt hauptsächlich Sorghum. Sorghum stammt aus der Gruppe der Süßgräser und ist eine Hirseart, die den Tieren aber auch den Menschen als Nahrung dient. Die Mursi bereiten aus Sorghum Brei, Fladen oder Grütze zu. Die große, fruchtbare Region, in der das Volk der Mursi lebt, gibt ihnen die Möglichkeit, zweimal im Jahr Nahrungsmittel anzupflanzen und zu ernten. Jährlich werden im Oktober und November Mais, Kichererbsen und Bohnen an den Flussufern des Omo und Mago angebaut. Die Ernte darauf erfolgt im Januar und Februar. Im März und April wird die zweite Saat angepflanzt. Da die Regenzeit begonnen hat, befinden sich die Felder für die zweite Aussaat weiter im Innern des Landes. Diese Saat wird dann im Juni und Juli geerntet.
Teilweise sind die Regenzeiten jedoch so stark, dass das Land überflutet ist und die Ernten ausfallen.
Zwischen 1971 und 1973 gab es eine beispiellose Regenzeit. Das Ergebnis dieser starken Regenfälle war eine
große Hungersnot bei den Mursis. Die einzige Hungersnot, die noch die Alten kannten, war „der große Hunger“
oder „roboga“ in Mursi zwischen den Jahren 1882 und 1892.
Wie konnte das Mursivolk die große Hungersnot überwinden? Viele, beinahe 20 Prozent, von ihnen starben. Als
Gruppe verbündeten sie sich und tauschten Pflanzen, Gemüse und neues Saatgut gegen die Rinder, die sie
besaßen. Sie tauschten alle möglichen Waren, um sich am Leben zu erhalten. Doch der Besitz ihrer Rinder war
der ausschlaggebende Punkt, dass sie diese Hungersnot überlebten. Einige Männer holten sogar Rinder ihres
bereits gezahlten Brautpreises zurück um das Fleisch einzutauschen. Anhand des Besitzes von Rindern zeigt
sich, wie diese kleine Gesellschaft aufgrund der Herden ihr Überleben sicherte.
An dieser Stelle wird deutlich, dass dem Mursivolk ein geeignetes Stück Land, auf dem Ackerbau betrieben werden kann und Weideland vorhanden ist, ausreicht, um ihr Leben zu sichern. Das kleine Land zwischen den zwei Nationalparks, umgeben von den Flüssen Omo und Mago, ist der Garant für ein sicheres Leben der Mursi, aber auch aller anderen dort lebenden Volksgruppen und Stämme. Sie sind weder auf die Regierung noch auf Lebensmittelgüter von Hilfsorganisationen angewiesen.
Der Stockkampf, den die Mursi „Donga“ nennen, ist ein kämpferisches Ritual zwischen den Männern der
verschiedenen Stammesgruppen. Junge, unverheiratete Männer aus der gesamten Region nehmen an diesem
Zweikampf teil, bei dem es darum geht, sich den unverheirateten Frauen in Statur, Kraft und Mut zu zeigen,
um eine zukünftige Ehefrau zu finden.
Der „donga“ ist ca. zwei Meter lang und aus zwei speziellen Sorten des Grewiabaumes gefertigt. Der
angreifende Kämpfer greift mit beiden Händen den „donga“ und versucht seinen Gegner mit dem Schaft an einer
Stelle des Körpers zu treffen, damit dieser bewusstlos wird und zu Boden geht. Dabei wird jeder der Männer
von einem oder mehreren Schiedsrichtern beim Kampf beobachtet und kontrolliert.
Die Männer tragen beim „donga“ Kampf einen „tumoga“, was den Mann schützt und gleichzeitig als Schmuck
dient. Dabei tragen sie einen korbähnlichen Handschuh für die rechte Hand, einen Schienbeinschutz aus
Tierhaut, Sisalringe um die Ellenbogen und Knie zu schützen, ein Leopardenfell für den Oberkörper, eine Art
Rock aus geschnittenen Streifen. Um den Kopf vor Verletzungen zu schützen, tragen sie geschnittene Bahnen
aus Baumwollstoff.
Mit dem „donga“ Kampf zeigen sie der Gesellschaft, und insbesondere den Frauen, ihren Mut und ihre Stärke,
die zeigt, dass sie eine Familie gründen, ernähren und verteidigen können.
Frauen und Kinder nehmen an diesen Kämpfen als singende und tanzende Gäste teil. Nach den Kämpfen können
die Frauen offiziell ihr Interesse für einen Mann kundtun. Hat dieser Mann ebenfalls Interesse an der Frau,
kann eine Hochzeit geplant werden.
Der „donga“ Kampf findet unter den einzelnen Mursi Gruppen einmal jährlich statt. Der Kampf geht über
mehrere Tage und wird Monate im Voraus geplant und organisiert. Sind ausreichend junge und heiratswillige
Männer gefunden, können sie sich den kämpferischen Herausforderungen stellen. Das Datum wird auf einen
Zeitraum im Jahr gelegt, an dem es reichlich Gemüse und Fleisch gibt, um den Männern ein stattliches Mahl zu
servieren und sich nach den tagelangen Kämpfen wieder stärken können. Am Ende nehmen alle an einem großen
Fest teil.
Der „donga“ ist neben dem Tragen des Lippentellers der Frauen eine der wichtigsten Schlüsselrollen und Identitätsmerkmale im Leben des Mursivolkes. Ebenso ist das am Ende des "donga" gefeierte Fest eines der größten im Leben der Mursi. Männer wie Frauen und Kinder sind festlich mit vielen Körperbemalungen geschmückt. Da sich die Frauen bei den Kämpfen einen Mann aussuchen können, fiebern gerade sie diesem Ereignis lange im Voraus entgegen.
Das Mursikvolk lebt mit der Religion des Animismus. Der Animismus gehört zu den Naturreligionen, die für
die Naturvölker typisch sind. Daher gibt es den Animismus in keiner schriftlich wiedergegebenen Form.
Der Animismus trägt bestimmte Merkmale, die bei den Naturvölkern, und so auch im Mursivolk, erkenntlich
sind. Dazu gehört der Glaube, dass jede natürliche Materie eine eigene Lebenskraft und Willen besitzt.
Dieses Wissen und der Glaube zeigt sich bei den Mursis im alltäglichen Leben, bei ihren Ritualen und
Festlichkeiten, sowie ihrem Körperschmuck und im speziellen ihrer besonderen Art, alle vorhandenen
Materialien zu nutzen und damit zu ehren.
Die Mursi schmücken ihre Körper zum großen Teil mit Ziernarben. Dabei schneiden sich die Männer kreisrunde
Verletzungen um ihre Brustwarze, die ausdrücken, dass sie einen Feind getötet haben.
Am Rücken, Schultern und Oberarmen tragen Männer wie Frauen diese Art der Ziernarben, die in kreisförmigen
Mustern den Körper schmücken. Die Männer tragen zu unterschiedlichen Anlässen verschiedene Bemalungen, die
mit weißer Kreide auf den Körper gezeichnet werden. Neben den Ziernarben, den Lippentellern und den
Bemalungen gibt es bunten Kopfschmuck, den Männer wie Frauen tragen.
Es gibt viele Mutmaßungen über die Bedeutung der Ziernarben und Bemalungen. Doch die Mursi selbst legen
nicht viel Wert auf die Erklärung ihres Körperschmuckes. Für sie ist es schlicht Teil ihres Lebens und ihrer
Traditionen.
Der bekannte Lippenteller der Mursi Frauen ist eine der letzten traditionellen Schmuckstücke in Afrika. Mit
dem Alter von 15 oder 16 Jahren wird den Mädchen die Unterlippe aufgeschnitten. Im Allgemeinen wird das
Aufschneiden von der Mutter oder einer anderen Frau aus der Gruppe übernommen. Damit die unteren Zähne beim
späteren Tragen des Lippentellers nicht stören, müssen zwei der unteren Schneidezähne herausgebrochen
werden. Die Wunde in der Lippe wird mit einem hölzernen Stöpsel verschlossen. Der Stöpsel verhindert das
Zuwachsen der Lippe, die mit dem Einsetzen des Stöpsels vorsichtig gedehnt wird. Von Zeit zu Zeit wird ein
größerer Stöpsel in die geteilte Unterlippe eingesetzt, bis der bekannte Lippenteller verwendet werden
kann.
Jetzt ist sie eine „bansai“, ein Mädchen, das offiziell zur Frau heranwächst und damit in nächster Zeit das
Heiratsalter erreichen wird. Nach ca. einem Jahr ist die Unterlippe so weit gedehnt und wird durch einen
neuen, größeren Holzstöpsel ersetzt. Diese Prozedur wird so lange fortgesetzt, bis der erste Lippenteller in
die gedehnte Unterlippe eingesetzt wird. Die Tonteller in den unterschiedlichen Größen fertigen die Mädchen
selbst an. Dieses feierliche Ritual bedeutet, dass sie jetzt eine erwachsene Frau im Heiratsalter und
gebärfähig ist.
Der Lippenteller ist ein wichtiges Symbol der Frauen, welches Stärke und hohe Selbstachtung ausdrückt.
Gleichzeitig ist es Teil der weiblichen Schönheit der Mursis. Der Lippenteller wird im alltäglichen Leben
nicht immer getragen. Aufgrund der Größe, die bis zu 20 cm Durchmesser variieren kann, ist der Lippenteller
sehr unkomfortabel. Sobald Gäste das Heim des Ehepaares betreten, legt die Frau den Lippenteller an und
serviert damit den Besuchern Getränke.
Die Größe des Lippentellers steht nicht in Zusammenhang mit der Höhe des Brautpreises, wie oft vermutet
wird. Diese Annahme ist nicht richtig, denn oft wird eine Ehe bereits lange vor dem Einschneiden der
Unterlippe arrangiert. Bei diesem Arrangement wird auch der Brautpreis verhandelt, den die Familie des
zukünftigen Ehemannes an die Familie der Brauteltern zahlen muss.
Auch die Annahme, dass die Mädchen aus der Zeit der Sklaverei verunstaltet werden sollten, um sie nicht
attraktiv für die Sklavenhalter aufwachsen zu lassen, erscheint umstritten. Die Mursi selbst ignorieren
solche Geschichten und historischen Erklärungen.
Die im Omo Tal unterschiedlich lebenden Völker gehören zu den drei großen afrikanischen Sprachfamilien. Zu
den Völkern der nilo-saharanischen Sprache gehören Mursi, Tirma, Chai, Nyangatom, Me'en und Kwegu. Zu der
omotischen Sprachfamilie zählt Aari, Banna, Bashada, Hamar und Kara und Cushitisch. Die am meisten der Mursi
ähnelnden Völker sind die Chai und Tirma. Zwischen diesen Völkern gibt es die häufigsten kulturellen
Verknüpfungspunkte. Die Völker der Chai und Tirma leben westlich des Omo und südlich der Maji. Zusammen
zählen diese beiden Völker rund 28.000 Menschen. Die Völker der Mursi, Chai und Tirma sprechen dieselbe
surmische Sprache mit unterschiedlichen Dialekten. Aufgrund dieser Gleichnisse finden desöfteren Hochzeiten
zwischen diesen beiden Völkergruppen statt.
Das Volk der Me'en besteht aus sieben untergliederten Völkergruppen. Die Chirim und Mela leben östlich des
Omo. Diese zwei Völker werden vom Mursivolk „Tumura“ genannt. Die Aari und Dizzi werden von ihnen „Su“
gerufen, die Kara wiederum „Kera“, die Hamar „Hamari“, die Nyangatom „Bume“ und die Dassanetch „Geleba“.
Die Kara und Kwegu Völker bestehen aus nicht mehr als einige hundert Menschen. Die Kara leben im Süden der
Omo-Mago Verbindung und sprechen die gleiche Sprache wie die Hamar. Ebenfalls entlang des Omo leben die
Kwegu, zwischen den anderen Völkergruppen Bodi, Kara und den Mursi. Die Kwegu werden von den Mursi „Nydi“
genannt.
Aufgrund der Sprachähnlichkeiten ist es für die unterschiedlichen Völkergruppen nicht schwierig, gemeinsame
Verbindungen wie Hochzeiten und Familiengründungen einzugehen oder zu Besprechungen, die die Völker
gemeinsam betreffen, zusammenzukommen.
Doch das Leben mit den anderen Volksgruppen war nicht immer friedlich. Zwischen 1920 und 1930 okkupierten die Mursis das Land um den Fluss Mara. Einst gehörte dem Bodi Volk das Land Mara. Der Kampf um das wertvolle Land endete erst 1975 nach der zweiten großen Hungersnot. Zwischen 1978 und 1980 gab es eine große Dürrezeit, die die Mursi dazu veranlasste, das Land um den Mara zu verlassen und in das Mago-Tal zu ziehen. Bis 1982 errichteten sie ein neues Dort von ca. 200 Häusern. 800 bis 1000 Mursis lebten jetzt im Mago-Tal, 20 Prozent des gesamten Volkes.
Die gesamte Region des Omo ist Teil unberührter Natur und einer der letzten kaum bekannten Regionen. Die
Gegend beherbergt die eine Vielzahl von unterschiedlichsten Tierarten. Die äthiopische Regierung plant im
Unterlauf des Omo den größten Staudamm des Landes zu bauen. Dieser Staudamm würde das Volk der Mursi, all
seiner Stämme und verschiedenen Nachbarn die Lebensgrundlage nehmen, wenn der Fluss nicht mehr ausreichend
Wasser zur Verfügung hat. Die Mursi, die als halbnomadisches Volk leben, benötigen das Wasser für ihren
Ackerbau und die Haltung der Rinder. Mit einem Staudamm wären sie nicht mehr in der Lage, ihre
landwirtschaftlichen Flächen zu bearbeiten. Ohne die Bewirtschaftung der Flächen würde das fruchtbare Land
austrocknen. Die Mursi wären in der Zukunft auf die Bereitstellung staatlicher Nahrungsmittel
angewiesen.
Der geplante Bau des Staudammes am Unterlauf des Omo gefährdet die außergewöhnliche Existenz des
Mursivolkes.
In den Jahren 2006 bis 2008 wurde dem Mursivolk die landwirtschaftliche Nutzung und das Grasen der Rinder
auf den Weideländern des Omo Nationalparks durch die Organisation „Afrikan Parks“ untersagt. Diese
Unterlassung stellte eine große Bedrohung für das Mursivolk dar, da sie dadurch einen Teil ihres Landes
verloren, der die grundlegenden Säulen ihres Daseins widerspiegelte. In Übereinstimmung mit der äthiopischen
Regierung wurde dieses Verbot wieder aufgehoben, sodass das Mursivolk weiterhin auf ihrem Land leben und
landwirtschaften kann.
Bei dem Verlust eines großen Teil ihres Landes würden sich die Rinderherden um ein vielfaches reduzieren.
Aufgrund der bedeutenden Stellung der Rinder innerhalb ihrer Gesellschaft hätte diese Maßnahme weitreichende
Folgen für das gesamte soziale Leben der Mursi, aber auch für deren Ernährung. Sie laufen Gefahr, ihre
Wirtschaftsweise zu verlieren, mit der sie bis jetzt unabhängig vom Staat und Hilfsgütern leben konnten.
Obwohl das Mursivolk abgeschnitten vom Rest der Welt lebt, sind sie in der Lage, die für sie notwendigen
Lebensmittel anzubauen bzw. ausreichend Rinder zu halten, um sich täglich ernähren zu können. Jeder Eingriff
in ihr isoliertes Leben gefährdet ihr Dasein.
Die äthiopische Regierung hatte ohne Zustimmung des Naturvolkes zwei Entscheidungen getroffen, die das
Leben der Mursi und aller anderen dort lebenden Stämme tief greifend verändern wird. An der Umsetzung wurde
bereits begonnen.
Zum einen werden in der Umgebung des Omotals Zuckerrohrplantagen angebaut, die das Ackerland am Unterlauf
des Omo zerstören. Das Land wurde teilweise an private Investoren vergeben, ohne auf die dort lebenden
Menschen Rücksicht zu nehmen. Dafür wurde das große Buschland bereits planiert, begradigt und Bäume gefällt,
die den Nashörnern und Giraffen in der heißen Sonne Schatten spendeten. Die Tiere müssen nun andere
Zufluchtsorte finden und werden das Omotal verlassen müssen. Die bisher unberührte Natur hat bereits Schaden
genommen.
Der größere und weit wichtigere Faktor ist die Tatsache, dass im Omo-Tal mit dem Bau des dritten Staudammes
namens „Gibe III“ begonnen wurde. Dieser Staudamm würde die Austrocknung des Landes an den Ufern des Omos
bedeuten. Damit wird wertvolles und fruchtbares Ackerland für die Mursis zerstört und sie werden ihrer
Lebensgrundlage beraubt. Damit ist das Leben eines der beeindruckendsten und letzten Naturvölker Afrikas in
großer Gefahr.
Die Mursis selbst fürchten bereits um ihre Existenz. Die Worte eines Mursi sprechen eine klare und deutliche
Sprache: „Jetzt weinen wir. Ihr müsst uns bitte helfen. Wenn uns niemand hilft, warten wir auf unseren Tod.
Ihr müsst mit Eurer Regierung sprechen, um uns zu helfen.“
Der Omo wird bereits mit neuen Bewässerungskanälen umgeleitet. Die Kanäle dienen der Bewässerung neuer
Plantagen von staatlichen und privaten Investoren. Die Umleitung in Kanäle hat für das Mursi Volk heute
bereits sichtbare Folgen. Der Fluss ist während der Trockenzeit an verschiedenen Stellen so niedrig, dass
sie den Fluss mühelos überqueren können, ohne dabei nass zu werden.
Die Planung besagt, dass der neue Staudamm auf einer Länge von 200 km den einst natürlichen Flusslauf und
die jährlich notwendigen Überflutungen unterbrechen wird. Das Ackerland der Mursis wird demnach in kürzester
Zeit austrocknen und für den Gemüseanbau unbrauchbar werden.
Sobald der Staudamm fertiggestellt ist, wird sich der Stausee mit Wasser füllen und das Land um ihn herum
austrocknen. Das Mursivolk wird gezwungen, seine Ortschaft zu verlassen. Ansonsten droht ihnen die Regierung
damit, ihre Rinder zu beschlagnahmen und sie zwangsweise zu versetzen. Als Entschädigung für den Verlust
ihres Landes sollen sie eine Nahrungsmittelhilfe erhalten, die sie in die Abhängigkeit der Regierung treiben
wird.